Ich und… Helmut Halfmann

Es war Anfang 1997, als der junge unbedarfte Jüngling, mit, vor Rührung glänzenden Augen, den goldenen Rohling mit der ungelenken, mit rotem Edding ausgeführten handschriftlichen Niederschrift des Namens „Schleichfahrt“, in seine schweißnassen und leicht zitternden Handflächen nahm. Er hatte dafür, dem sich arrogant und viel zu wichtig gebenden Schulhofdealer wochenlang in den Ohren liegen müssen. Zumal er keinen adäquaten Gegenwert anbieten konnte. Denn dass metallene Siku-Traktor Modelle der Coolness des Geeks nicht Rechnung tragen würden, das war ihm auch ohne Scham folgende Anfrage bewusst. Genau so wenig wie ein Tauschangebot von familiengerechter Unterhaltungssoftware, die dem Jüngling von pädagogisch überzeugt handelnden Eltern zugeschoben worden war. Zumindest nicht, wenn sich des Chips Challenge nicht auf die sachgerechte Anwendung eines Molotowcocktails und eines Kinderwagens bezog.

Und so schob er dem „Computerselbstzusammenschrauber“ und „ErweiterterSpeicherfreiräumer“ beschämt einen 10-Mark-Schein zu. Die handelsübliche Rohlingskostenbeteiligung. Das Money-of-Shame dass den als Schmarotzer brandmarkte, der keinen eigenen handelbaren Content besaß.

Warum er aber so unbedingt dieses, namentlich im Bereich des Fäkalhumors angesiedelte Stück deutscher Unterhaltungssoftware benötigte?
Nun, nach ellenlangen Grabenkämpfen mit seinen Erziehern, die ihm, als alternative und zudem überflüssigerweise noch höchst religiöse Menschen große Teile seiner Kindheit sogar einen Fernseher vorenthalten hatten, gelang es ihm, dem Kind eines Pfarrers, doch tatsächlich die Anschaffung eines Windows-Kompatiblen durchzusetzen. Zur Geistesertüchtigung, Zukunftsrüstung und als Recherchealmanach.

Natürlich.

Als Einstimmung auf die endlich zu erfolgende Realitätserweiterung suchte er schnellstmöglich den Kiosk seines Vertrauens auf, und las sich unermüdlich in Fachliteratur ein. Die Pc Joker zum Beispiel, die in der Novemberausgabe 1996 eben jenes begehrte Spiel testete, und Orgasmusversprechende 87% vergab. Nun war das Urteil eines Gaming-Mags damals keine Meinung oder Empfehlung, kein kleines unbedeutendes Zahnrädchen im Getriebe des Meta-Score. Nein, die Wertung war Fakt. Unumstößlich. In seiner Transformation zum adulten Wesen musste ein Mann bestimmte Entscheidungen für sich treffen: Homo- oder Heterosexualität, Bildung oder Coolness, Playmobil oder Lego, Atheismus oder Religiosität. Und die Wahl des Spielemagazins. Und hatte man diese Wahl getroffen, war der Schreiberling der Prophet. Die teuren “Fach”magazine waren im Abo zu beziehen und vollends zu konsumieren. Egal ob die Rezension Doom oder Sim Copter betraf.
Die Magazine, treu nach Jahrgängen in abzockteuren Sammelschubern des Verlages sortiert, waren folgerichtig abgegriffener und zerfledderter als eine Familienbibel in einem Mehrgenerationenhaushalt orthodoxer Traditionalisten.

Jede Seite dieses vergilbend zerfallenden, billigen Altpapiers, atmete unzählige Stunden der Begeisterung, Träumerei und Sehnsucht.

6 Monate später hatte ich „Schleichfahrt“ noch immer nicht durchgespielt.

Spiele, und das war ein mittelschwerer Schock, waren selten die Freude wert die es einem ein Screenshot weismachen wollte.
Bei fast allen Spielen war die enttäuschende Diskrepanz zwischen Erwarteten und Erlebten das beständigste Element des Erfahrens. Hatte ich mir in meinen Träumen voller Erregung ausgemacht, wie ich in “F22-Lightning 2″ mit präzisen Kommentaren meine Wingmen in Formationsflug gegen den überdimensioniert bösen feindlichen Bomber schickte, und nach unzähligen erfolgreichen Dogfights in finaler, zeitkritischer Phase den jungfräulichen Knopf zum Auslösen der zielsuchenden Rakete berührte, die Raketenhalterung sich mit einem metallischen Knacken löste, und das Geschoss mit anschwellendem Dröhnen beim Zünden des Antriebes links an meinem Cockpit vorbeizischte, um sich in das Feindflugzeug zu graben, und dort in einem gleißenden Feuerball zu zergehen, so war die Realität ernüchternd. Eine halbe Stunde und 20 Tastaturbefehle zum fehlerlosen Starten, das im nahezu Standbild erfolgende Kriechen über eine grobe Fototapete und das fortwährende Drücken der Raketentasten bei Aufploppen eines Pixels am Skyboxhorizont traten die Dynamik und den Pathos meiner Gedanken mit Füßen. Keine dankbaren Feiglinge, die mir zu meinen Heldentaten gratulierten, keine ungebildeten Feindgestalten, die sich ob des näherkommenden Dröhnens meiner Kampfmaschine die Ledersitze einsauten, keine Prinzessinnen, die mir nach getaner Arbeit als Zeichen ihres Gunstbeweises ein Tüchlein hinwarfen.

Ich war enttäuscht.

Anders bei Schleichfahrt. Auch ruhig und träge in den Missionen dahindümpelnd, machte es meiner Fantasie ein Angebot, durchbrach den Selbstzweck seiner Mechanik, erzählte von fernen Zeiten, fremden Gebräuchen, dunklen Bedrohungen. Saugte mich in eine Welt, ohne mich dabei zu entmündigen, ermutigte mich zu fühlen, zu atmen, zu fantasieren.

In den Missionen wurde auf genügend Leerlauf geachtet, in der mir die bassgetriebene Bedrückung, Klaustrophobie und Trostlosigkeit des Überlebens aufs Gemüt schlug. In den Stationen, deren Gestalt sich in tonal unterlegten Renderbildchen zeigte, betrieb man Konversation in den engen Grenzen statischer Porträtbilder. Und konzentrierte sich auf das zu Sagende. Keine Abgleiten des Blickes in das Dekolleté der Polygonbraut, keine Musterung der flackernden Schatten in den Grübchen der blonden Mieze, kein Uncanny-Valley bei den grobmotorischen Versuchen animierter Emotion. Die, weitaus stilsichereren Porträtbilder traten galant hinter die zu vermittelnde Botschaft. Die unglaublich dichte, in erfindungsreicher Sprache erzählte Erklärung einer Epoche. Die Small Talk Fragmente unzähliger charismatischer Typen. Die beiläufige initiierte und immer präsenter und wichtiger werdende Story.

Weswegen ich mich sträubte, immer und immer wieder in diese Tristesse abzutauchen. Wusste ich doch dass ich die folgenden Stunden, von Schwermut erdrückt und vollkommen gefangen in der Trostlosigkeit dieser Endzeitvisualisierung Bestandteil dieser Vision SEIN würde. Keine intellektuelle Annahme eines Rollenspiels sondern die vollkommene Vereinnahmung meiner Selbst für das zu Erlebende. Was mich das (recht regelmäßige) Versagen, nicht zu einer Eventualität des Spieldesigns bagatellisieren, sondern meinen vereinnahmten Avatar sterben ließ. Und ich die Verantwortung dafür trug.

Auf die Spitze getrieben wird dieser Respekt vor der nicht gezeigten, sondern erzählten Alternativrealität im Nach-Nachfolger “Aquanox 2: Revelation”. (Im zwischenzeitlich gelaunchtem „Aquanox“, durch das in Dotcom Zeiten Börsenkapitalisierte Jowood, verliebte man sich zu sehr in Shaderspielereien und technische Awesomeness).
Das mystisch angehauchte Unterwasser-Roadmovie ist im Kern eine klassische Abenteuergeschichte und damit weder herausragend noch besonders kreativ. Doch wie im Urahn tragen die, zudem unglaublich gut synchronisierten Gespräche (liebe Synchronsprecherin Mei Lings, ich heirate dich ungesehen) eine Welt die, wenn auch nur in Nebensätzen angedeutet, ein so mannigfaltiges wie fantastisches Kleid trägt, dass man in ihr sofort verloren geht. Die Mischung aus unverhohlener wortkreativer Freude, Neo-Matrosen Jargon, knisternder Erotik mit der Gewissheit nicht jede Frau flachlegen zu können und eines egoistisch-technokratischen Weltbildes, in einer, mit der wieselnden Lebendigkeit eines aufgebrachten Fischschwarms schäumenden Welt, machen „Aquanox 2“ zu der bis dato beeindruckendsten interaktiven Zukunftsvision. Ganz ohne ein Entscheidungsmoment oder ausgefeiltes Innovationsgameplay. Nur mit dem Respekt, und der bedingungslosen Integration der narrativen Komponente und den wohl besten Autor dieses Genres: Helmut Halfmann.

Ein Mann, dessen Wirken kaum Beachtung fand, dessen Spiele nur mäßig erfolgreich waren, und dessen arbeitgebendes Studio, zusammen mit dem fast fertigen aber unveröffentlichten Ps2 Ableger “Aquanox 2:TAT”, von Jowood 2005 geschlossen wurde.
Eine Übernahme der Aquanox Lizenz nach der Insolvenz und Abwicklung Jowoods ist äußerst unwahrscheinlich, neue Erzählungen aus der Feder Helmut Haffmanns leider unmöglich.

Am 18.04.2009 verstarb Helmut Halfman nach langem Krebsleiden.

 

12 Kommentare

  • Cooler Text an Spiele, die ich auch mochte. Doch da der Teufel seine Brüder kennt sage ich dir, dass du gerade im Deskriptiven die Tendenz zum Stilblütenkitsch hast. Ich meine solche Passagen wie:

    “in einer, mit der wieselnden Lebendigkeit eines aufgebrachten Fischschwarms schäumenden Welt”

    “von Schwermut erdrückt und vollkommen gefangen in der Trostlosigkeit dieser Endzeitvisualisierung”

    “eine Welt die, wenn auch nur in Nebensätzen angedeutet, ein so mannigfaltiges wie fantastisches Kleid trägt”

    Und geh’ außerdem solchen TV Movie-Redewendungen wie “knisternde Erotik” aus dem Weg. ;)

    Übrigens dauerte meine Schleichfahrt-Installation ihrerzeit mehrere Stunden lang, ohne dass sich der Fortschrittsbalken bewegte. Schleichfahrt halt. Hua Hua!

    Abgesehen davon

  • ups… zu früh geklickt!

    …abgesehen davon: ein wirklich cooler Text und ich meine die Kritik alles andere als gönnerhaft und böse. Schließlich habe ich viel schlimmere Formulierungen verbrochen. :)

    • Ey, Toni.

      “ein wirklich cooler Text und ich meine die Kritik alles andere als gönnerhaft und böse”

      Hast du nach deiner pädagogischen Selbsterklärung eine letale Dosis Östrogen eingeworfen, oder warum muss ich hier solches Kätzchengeknuddel lesen? ;-)

      Pussy!!!

      Ein ungelenkes herumstolzieren in High-Heels in einem Sumpf gefüllt mit Treibsand beschreibt wohl am Besten wie ich mich derzeit noch beim Schreiben fühle. Wie ein Space Marine bei let`s Dance. Ist echt nicht meine liebste Disziplin. Aber es kommt. Oder auch nicht. Wie auch immer. Ihr müsst es ja lesen ;-)

      Der Stilblütenkitsch war ein plumper Versuch der atmosphärischen Annäherung an die Gefühlswelt der zu beschreibenden Spielreihe. Hmm.. wohl ein gescheiterter.

      Und die knisternde Erotik… ja… das… war… SEO?

  • Schreiben ist was Intimes, finde ich und Kritik an Texten kann leicht so einen bösartigen Unterton haben – den versuche ich zu vermeiden, halt! (PÄDAGOGENOVERDRIVE!)

    Ansonsten: einfach Weiterschreiben, deine Sprache finden blabla… (echt!) Ich habe bisher jeden deiner Texte gelesen und sie haben mir allesamt gefallen. :)

  • Tonez muss sich bei Textkritik ja schon wegen seiner Fehlerchen zurückhalten :-P. Aber da er schon das Thema ansprach: Dieser Artikel lag zwei Tage in meiner Zwischenablage, weil ich auch am Stil gescheitert war (okay, mich irritieren auch besonders falsche Zeichensetzung). Die Hürden des Aufgebens besonders beim Lesen im Internet müssen eben sehr gering sein. Die Annäherung ans Thema finde ich aber sehr gelungen!

    Schleichfahrt hab ich übrigens nie gespielt ;-). An AquaNox (2?) haben mich – Spoiler – die Lovecraft’schen Monster am Ende interessiert, aber mein Rechner war damals zu schwach.

    PS: Von den Sachen, die ich so geschrieben habe, könnte ich vieles in der Rückschau stark umschreiben. Und ich ärgere mich, dass ich selten “gut” schreibe. Aber davon darf man sich halt nicht runterkriegen lassen, hehe.

    PPS: “Haffman” im letzten Satz und die Kommentare werden verwirrend sortiert (umgekehrt, Antworten).

  • Hi HomiSite

    Danke für das Feedback. Ist ausgebessert. Soweit möglich. Kommasetzung und Ich, das ist leider ein monumentaler Krieg epischen Ausmaßes… ohne das ich die geringste Chance auf einen Sieg habe.

  • Ortogrofieh ist ja auch nicht wirklich wichtig! Nur Holmes achtet auf so was! Stil hingegen… ;)

  • onkl schrieb:

    Gerade zufällig im nerds blogroll entdeckt und eher gelangweilt mal draufgeklickt (schicker Name btw.) und dann von so einem netten Text begrüßt. Ich liebe diese Anekdoten aus der Zockerkinderheit.
    Aber wie Toni schon bemerkte, die Anzahl der Adjektive wirkt schnell ermüdend beim Lesen.

  • Respekt und Hut ab, wahnsinnig guter Text. Hat mir wirklich Freude gemacht beim Lesen und erinnerte mich sehr an ähnliche Szenen im eigenen Leben – wobei, spätestens als es die ersten Hefte mit Vollversionen gab (Bestseller Games und diese andere Heft für 14,90 DM PC Power oder so?) war das “Wort des Redakteurs” nur soviel wert wie die beigelegte Vollversion.

    • Danke für das Wohlwollende Feedback. War die Bestseller-Games nicht diese 2 Seiten Altpapier samt Vollversion? Die fand ich psychologisch immer sehr nahe an normalen Budgetspielen. Deswegen erlag ich ihrer Versuchung nur selten. Aber es stimmt natürlich : Im Zweifel galt die Vollversion. Egal wie schlecht. Mit Grausen erinnere ich mich an den Schrott den ich gesupielt habe. Allein weil er “kostenlos” war.

  • Schön ab und zu mal wieder auf einen Artikel über Helmut Halfmann und sein Werk zu stoßen. Danke. Habe seine Spiele leider nie gespielt, dazu fehlte die Zeit. Hätte das zu seinen Lebzeiten tun sollen. Die Spiele haben ihm viel bedeutet, vor allem “Schleichfahrt”. Helle und ich haben mal zwei Jahre an einem kleinen Musikprojekt zusammengearbeitet. Ein sehr interessanter Mensch, dessen enorme Phantasie Fluch und Segen zugleich waren. Gut zu wissen, daß seine Arbeit nicht vergessen ist.

  • Sehr schön geschrieben! Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte dass mich die Welt Halfmanns (Schleichfahrt und AN2) nachhaltig geprägt hat und bis heute meine Phantasie beflügelt. Ich bin schockiert hier lesen zu müssen, dass er nicht mehr unter uns weilt.
    Irgendwann einmal habe ich irgendwo im Netz seinen Schleichfahrt-Roman gefunden und gespeichert, aber bis heute nicht gelesen. Asche auf mein Haupt, ich muss das nachholen.

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